Für die anstehenden Arbeit in den Bergen, hat sich ANONIM mit der Theorie der Situationistischen Internationale[1], insbesondere mit den Kernbegriffen „Dérive“ und „Détournement“, weiter auseinandergesetzt. „Dérive“ und „Détournement“ sind Kernbegriffe der situationistischen Theorie und bezeichnen sowohl situationistische Praxis als auch Methodik. Beide Prinzipien sind nicht leicht voneinander zu trennen, selbst in den Schriften von Guy Debord werden sie zum Teil synonym verwandt. Ein dritter, von Gilles Ivain geprägter Begriff, der „unitäre Urbanismus“ ist als ein Forschungsgebiet der SI anzusehen, zu dem „dérive“ und „détournement“ die Methoden darstellen. Das heißt, das Feld, auf dem zu wirken beabsichtigt wird, ist nicht auf eine Kunstgattung (Malerei, Skulptur, Film ecc.) beschränkt, sondern hat eine unfassende künstlerische Veränderung des gesamten urbanen Lebensraums zum Ziel (ganz im Sinne der Avantgarden der 60er Jahre, nämlich der Dichotomie Kunst – Leben ein Ende zu setzen). Das Alltagsleben sollte von Grund auf verändert und dem Spiel- und Lustprinzip unterworfen werden, so dass die Welt auf neuen Wegen erschlossen werden konnte. Wichtiges Element dabei ist die Spieltheorie, die einen gemeinsamen Interpretationsrahmen für künstlerische sowie für alltägliche Handlungsweisen lieferte. Die „Dérive“ definierte Debord als „Technik eines vorübergehenden Durchgangs durch sich verändernde Umgebungen“ [2]. Das Konzept der „dérive“, des Umherschweifens in (unbekannten) Stadtteilen und die damit verbundene Erkundung wurde bereits in Warschau (Juni 2010) praktiziert.[3] Eine andere Variante der „dérive“, die auf ironische Weise soziokulturelle Gegebenheiten in Frage stellt, wäre z.B. mit einer Karte des U Bahn Systems Wiens das Osttiroler Dorf St. Jakob im Defereggental zu erkunden.[4] In auf diese Weise entstehenden „Situationen“ findet die Theorie ihre Praxis: d.h. es werden Handlungen formuliert, die den etablierten Rhythmus von Verhältnissen (die in einem bestimmten Kontext bestehen) unterbrechen. Die so entstandene paradoxe Situation macht Formen von Autorität und Herrschaft sichtbar, die gewöhnlich nicht wahrnehmbar sind. Das Prinzip des „détournement“ bedeutet Zweckentfremdung bzw. Umkehrung. Es wird von Debord wie folgt definiert: „Zweckentfremdung von ästhetischen Fertigteilen. Integration der gegenwärtigen oder vergangenen künstlerischen Produktion in eine übergeordnete Konstruktion eines Milieus. In diesem Sinne kann es weder eine situationistische Malerei noch eine situationistische Musik, wohl aber eine situationistische Anwendung dieser Mittel geben. In einem ursprünglicheren Sinne ist die Zweckentfremdung innerhalb der alten kulturellen Gebiete eine Propagandamethode, die die Abnutzung und den Bedeutungsverlust dieser Gebiete aufzeigt.“[5] D.h. das „détournement“ bezeichnet ebenfalls ein Prinzip zur Überwindung der Entfremdung des Menschen in der Welt, jedoch in dem Fall mit den Mitteln der Ver-fremdung. Was bei Aktion mit der „falschen“ Stadt/Wanderkarte schon anklingt, nämlich die absichtlich falsche Inbezugsetzung von kulturellen Kategorien, wird mit der „détournement“-Technik zum Prinzip.[6]
[1] Die Situationisten operierten an der Schnittstelle von Kunst und Politik, Architektur und Wirklichkeit und setzten sich für die Realisierung der Versprechungen der Kunst im Alltagsleben ein, was bedeutete, dass Poesie oder künstlerisches Denken und Handeln nicht mehr nur auf Leinwänden, sondern in der Gestaltung der alltäglichen Lebenswelt Aller stattfinden sollte. Sie entwickelten ein Konzept der „theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen“, in denen das Leben selbst zum Kunstwerk werden sollte. Die Situationisten versuchten, ästhetische Konzepte auf die Gesellschaft zu übertragen. „Ästhetisch“, bezogen auf ihren Kunstbegriff, waren Situationen, in denen sich Menschen unmittelbar frei und gleichberechtigt begegnen, sich austauschen, kreativ sind und sich ihren Leidenschaften hingeben und somit keinen unnötigen Zwängen mehr unterliegen.[2] „Unter den verschiedenen situationistischen Verfahren ist das Umherschweifen eine Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen. Das Konzept des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeografischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt.“ Vgl. Robert Ohrt [Hrsg.]: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Ed. Nautilus, 1995, S. 64.[3] Die Gruppe macht es sich zur Aufgabe, das Umherschweifen im Sinne Debords probeweise zu praktizieren: die Teilnehmer werden per Zufallsprinzip in Zweiergruppen[3] eingeteilt und eingeladen, die Stadt zu erkunden: man lässt sich treiben, „sinnlos“, in unbekannten Stadtteilen, nur den momentanen Lüsten oder einer Straße folgend. Man verzichtet für eine gewisse Zeit auf die im allgemeinen bekannten Handlungs- und Bewegungsmotive, auf die Beziehungen, Arbeits- oder Freizeitbeschäftigungen, um sich voll und ganz den Anregungen des jeweiligen Geländes zu überlassen. Die Zeitspanne des dérive umfasst in der Regel einen Tag, der Spielraum maximal das Gebiet einer Großstadt samt Vororte, minimal ein einziges Viertel oder einen Häuserblock. Die Lehren des Umherschweifens ermöglichen es, die psychogeographische Gliederung einer modernen Stadt aufzuzeichnen: die Ergebnisse der Beobachtungen, Untersuchungen und Erlebnisse werden festgehalten (und dienten der SI als Grundlage für die Kritik an der urbanen Struktur). ANONIM wird ihre Eindrücke durch Warschau im Ausstellungsraum (in welcher Form auch immer) visualisieren und der immateriellen Kunstform von Debord vielleicht eine Bildform entgegensetzen.[4] Die Situationisten durchwanderten mit einem Stadtplan von London den Harz.
[5] Vgl. Robert Ohrt [Hrsg.]: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Ed. Nautilus, 1995, S. 51.[6] Asger Jorn kaufte etwa Ölbilder mit röhrenden Hirschen auf dem Flohmarkt und verfremdete einzelne Partien, indem er in seiner Formensprache eine expressiv-bunte Malerei anbrachte. Oder in den situationistischen Zeitschriften wurden z.B. Szenen aus amerikanischen Comics eingefügt, deren banale Texte ohne jede Veränderung, allein durch den Kontext der Zeitschrift einer radikalen Transformation ihres Sinnes unterliegen.